Strecke: 18,1 km
Wanderzeit: ca. 7 Std.
Aufstieg: ca. 1222 m
Abstieg: ca. 1419 m
Höchster Punkt 3077 m
Kurzbeschreibung:
Von Vent geht es durch das Niedertal zur Martin-Busch-Hütte • Weiter zur Similaunhütte am Niederjochferner • Abstieg nach Vernagt über das Tisental • Zieleinlauf am Tisenhof • Busfahrt nach Meran
Ich kann es eigentlich kaum glauben aber heute ist schon der letzte Tag meiner Wanderung von Oberstdorf nach Meran. Wie alle vorigen Tage beginnt er mit einem wunderbaren Sommermorgen mit klarem Himmel und angenehmen Temperaturen. Das Frühstück in der kleinen Pension Stefanie hier am oberen Ende von Vent könnte besser nicht sein und ich mache mich gegen halb acht gut versorgt auf den Weg zur letzten Etappe meiner E5-Alpenüberquerung. Die ist streckenmäßig noch mal ganz ordentlich: Es warten etwa 18km Wegstrecke mit 1222 m Aufstieg und 1419 m Abstieg auf mich. Ich weiß allerdings aus verschiedenen Tourberichten, dass die Aufstiegsphase, die mich immerhin bis auf 3077m und damit auf den höchsten Punkt dieser Tour bringen wird, relativ gleichmäßig verläuft und keine derben Überraschungen birgt. Der Abstieg wird auf dem ersten Stück steil aber gut ausgetreten sein und sich dann ebenfalls problemlos gestalten.
Die ersten Meter hinter dem Ortsende ziehen sich noch durch das satte Grün des Venter Tals, doch schon nach ein oder zwei Kilometern ändert sich die Vegetation und es sieht schon wieder mehr nach Gletscherwelt aus: Wenig und nur kleine Vegetation, viel Fels und Geröll prägen das Landschaftsbild. Nichts desto trotz ist es hier schön und wieder eine neue Facette dieser abwechslungsreichen Hüttentour.
Der Weg führt längs durch das gesamte Niedertal, immer parallel zum Niedertalbach. Nach etwa drei Kilometern passiere ich die Jagdhütte, die rechts am Wegrand liegt. Geradeaus blicke ich unentwegt auf die Gipfel des Similaun und der Marzellspitze mit dem darunter befindlichen Marzellferner.
Nach knappen 8 km kommt nach einer Wegbiegung die Martin-Busch-Hütte in Sicht. Ich gönne mir eine Limonade und mache auf der Terrasse eine kurze Rast. Der Betrieb hält sich momentan in Grenzen, was aber wohl in erster Linie damit zu tun hat, dass die Gruppen, die hier heute genächtigt haben, längst unterwegs sind und die, die aus Vent losgezogen sind, noch hinter mir aufsteigen. Dass ich mit dieser Vermutung richtig liege, werde ich später noch feststellen.
Von der Martin-Busch-Hütte geht es weiter entlang des Niedertalbaches in Richtung Similaunhütte. Es wird mit zunehmender Höhe immer karger und am steiler werdenden Aufstieg zur Hütte führt der Weg teilweise über Firnfelder, die von der Sonne aufgeweicht sind und das Gehen erschweren. Stellenweise bricht man ein und muss sich mühselig wieder aus dem matschigen Schnee befreien. Diese von Schneeflächen bedeckte Mondlandschaft war bis vor einigen Jahren noch komplett Gletscher. Unweit von hier, etwas weiter zurück auf meinem Weg war die Abzweigung zum Tisenjoch, der Fundstelle des Ötzi, der hier vor 5000 Jahren auf noch nicht endgültig geklärte Weise ums Leben gekommen war. Wäre auf der Martin-Busch- oder der Similaunhütte ein Schlafplätzchen frei gewesen, hätte ich gerne den Abstecher gemacht. Nicht, weil die Fundstelle Spektakuläres zum Mann vom Tisenjoch zu bieten hätte, – der Ausblick soll grandios sein. Heute, von Vent kommend, würde mich der Umweg in zeitliche Bedrängnis bringen – gerne ein anderes Mal!
Kaum geht es steiler bergauf in Richtung Similaunhütte, gibt es Stau! Vor mir sind etliche Wandergruppen am Berg, die sich teilweise gegenseitig auf den Füssen stehen. Bevor ich die Hütte erreiche, geht es noch ein Stückchen über den letzten Ausläufer des Niederjochferners, der gemeinhin als Similaungletscher bezeichnet wird.
Die Hütte ist zum Bersten gefüllt, wahnsinnig laut und es geht zu wie in einem Ameisenhaufen. Schweres Gedrängel herrscht an der Bestelltheke, Unmutsäußerungen über drängelnde, vermeintlich vorpfuschende Nahrungskonkurrenten werden laut und es besteht keine Chance im Inneren der Hütte als Nichtmitglied einer Bergschule noch einen Platz zu ergattern. Einzig das Personal der Hütte hat ein unglaublich dickes Fell und behält selbst im gröbsten Durcheinander die Ruhe und den Durchblick – Respekt. Ich habe Hunger und muss mich in das Gerangel einfügen. Mit einem Teller Spaghetti Bolognaise als Beute schiebe ich mich nach zwanzig Minuten durch die Menschenmassen und suche den Weg nach draußen auf die Terrasse. Hier ist Ruhe. Das Wetter ist hier an der Abbruchkante zum Abstieg plötzlich umgeschlagen und Wolken ziehen kalt und etwas feucht über die Holzterrasse. Außer mir sind nur ein paar Gletscherwanderer draußen, den Anderen ist es wohl zu usselig.
Ich esse zügig meine Nudeln und schaue, dass ich den Abstieg in Angriff nehme, bevor sich der rempelnde Mob von drinnen in Bewegung setzt. Unmittelbar hinter der Similaunhütte geht es abwärts und zwar steil. Unter mir, wenn es die Wolkenfetzen erlauben, blicke ich in den riesigen Talkessel, der mich zum Vernagter Stausee hinunter bringen wird. Der Weg führt steil und teilweise ausgesetzt die Wände dieses Kessels hinab. Er ist gut ausgetreten, an einigen Stellen merkt man jedoch auch die Last der vielen vielen Menschen, die hier schon abgestiegen sind. Es gibt kürzere Passagen, bei denen man doch auf seinen Tritt achten sollte, weil der der schmale Pfad teilweise unter den vielen Schuhen weggebröselt ist.
Nebenbei fällt mir bei der endlich wiederkehrenden Ruhe ein, dass ich eben, irgendwo vor der Similaunhütte die italienische Grenze überschritten habe! Ich bin tatsächlich von Deutschland über die Alpen nach Italien gewandert! Ok, es war eine kleine Bus-Etappe dabei aber davon lasse ich mir die Freude nicht trüben. Ich bin noch nicht am Ziel aber ich habe immerhin schon das Zielland erreicht und irgendwo da unten in den Wolken liegt der Stausee, der den Zieleinlauf bildet. Eigentlich müsste es nicht Oberstdorf-Meran heißen, sondern Oberstdorf-Vernagt. Es würde die persönliche Freude sicherlich nicht schmälern aber Meran klingt wohl irgendwie besser.
Nach den steilen Passagen zu Beginn des Abstiegs wird der Weg merklich flacher und moderater und es geht immer tiefer ins Tal hinab. Es wird grüner, Bergschafe säumen meinen Weg. Unterhalb der Wolkendecke kommt nun auch immer wieder der Stausee von Vernagt mit seinem, je nach Lichteinfall, unnatürlich wirkenden Farben von hell-türkis bis satt blau ins Sichtfeld. Das Ziel scheint schon greifbar nahe. Hin und wieder überhole ich Gruppen, manchmal auch einzelne Wanderer. Bei allen bemerkt man eine gelöste Stimmung, was in Anbetracht des bevorstehenden Zieleinlaufs auch zu erwarten ist. Es geht nur noch entspannt abwärts, keine Hürden mehr, nur noch Südalpen-Idylle und zu allem Überfluss traumhaftes Wetter.
Ein paar Almen und einige Südtiroler Begrüßungskühe später erscheinen die ersten Häuser und dann stehe ich auf einmal vor der Terrasse des Tisenhofs. Die kleine Wirtschaft liegt etwa 100m über dem See und ist die Endstation von Oberstdorf-Meran. Die Berggruppen, die hier die Terrasse bevölkern, feiern ausgelassen die erfolgreiche Alpenüberquerung und lassen es sich und den qualmenden Füßen gut gehen. Wieder ist es laut und voll aber es ist eine nette Stimmung, nicht so wie an der Theke in der Similaunhütte. Ich grüße und gratuliere ein paar Wanderern, denen ich unterwegs heute mehrmals begegnet bin und nehme dieselben Ehrungen entgegen.
Dann freue ich mich zu entdecken, dass es um die Ecke noch einen kleinen Balkon gibt, der nur ein paar Tischchen bereit hält und ruhig und einladend in der Nachmittagssonne liegt. Ich finde meinen Platz dort, bestelle mir eine Platte mit Brot und Meraner Speck und ein Bier und genieße den Blick über den See. Und ich werde mir langsam darüber klar, dass ich nicht nur ein spannendes Abenteuer bewältigt habe, sondern Erfahrungen und Eindrücke mit nach Hause nehmen werde, die mich noch lange beschäftigen und bereichern werden. All die Planung im Voraus und alle die Mühen waren es 100%ig wert.
Nachdem ich den Ausblick, den Speck und das Bier genossen habe, bringt mich eine Asphaltstraße hinunter nach Vernagt, wo mich der Bus nach Meran aufnimmt. Die Busfahrt durch das Schnalstal ist eine Panoramatour, die Lust auf einen weiteren Besuch in der Gegend macht.
Üppige, grüne Berghänge und pittoreske Dörfer zeigen Südtirol von seiner schönsten Seite und die Ankunft in Meran festigt gleich den Plan, den Abend nicht im Hotel zu verbringen, sondern per Pedes noch die sehenswerte Altstadt zu erkunden, in der ich den Abend und meine Odyssee bei einem gemütlichen Italiener bei Pasta und südtiroler Wein ausklingen lasse.
Würde ich die Tour nochmal machen? Ich denke, eher nicht. Nicht weil es nicht unerhört schön war, sondern, weil es noch so viele andere Hüttentouren und Routen gibt, die das Erlebnis, Neues zu entdecken spannender machen, als die gleiche Strecke zweimal zu gehen. Ein guter Freund musste vor ein paar Jahren wetterbedingt umdisponieren und die geplante Route Oberstdorf-Meran gegen das darauf folgende Teilstück des Europawanderweges E5, nämlich Meran-Verona ersetzen. Dort ist alles etwas wärmer, das Essen etwas italienischer und man läuft den Hauptweg ohne Schleichweg-Varianten auszutüfteln, weil dort so wenige Wanderer unterwegs sind, dass man sich keine Sorgen um überfüllte Hütten und Unterkunftsprobleme machen muss. Das wäre doch was für das nächste Alpen-Abenteuer…